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Das philosophische Erbe des Aristoteles

Die Philosophie als wissenschaftliche Disziplin wird be­reits in der Antike im Judentum heimisch. Schon Aristo­bulos im 2. Jh. v. Chr. legt (in griechischer Sprache) die methodischen Grundregeln antiken jüdischen Philosophie­verständnisses fest. Eine dauernde Konjunktur gewinnt die philosophische Arbeit im Judentum aber erst seit dem 8./9. Jh. in Mesopotamien, wozu die Auseinander­setzung mit den Karäern sowie das gleichzeitige Aufblü­hen der Philosophie im arabischen Umfeld gleichermaßen beitragen. Das hohe Niveau, das die jüdischen philoso­phischen Studien in diesem Umfeld erhalten, bezeu­gen sowohl das Werk von Saadia Gaon (882–942), Salo­mon ibn Gabirol (1020–1050/51) und Jehuda Halewi (1075–1141) als auch der gewaltige Wegweiser für die Verwirr­ten (arabisch Dalālat al-Ḥāʾirīn, hebr. More Nevuchim) des Rabbi Moses ben Maimon (Maimonides, 1138–1204), dessen Reichtum philosophischer Gedanken die drei Fra­ge­bereiche des Aristobulos aufgreift:


1.) Welche philoso­­phischen Kenntnisse und Lehren sind im Judentum be­kannt bzw. wohnen bereits seinen heiligen Schriften inne? 


2.) Wie ist bei der allegorischen Auslegung der hei­ligen Texte vorzugehen, um die im Bibeltext angesprochene Wahrheit zu finden?


3.) Worin besteht die Wahrheit des Judentums im Vergleich zur griechischen Philosophie, namentlich der des Aristoteles, in ihrer Deutung durch arabische Philosophen wie al-Fārābī?


Die Durchsetzung dieses gewaltigen Werkes in weiten Kreisen des Judentums erfolgte ungewöhnlich schnell: Bereits um 1204 übertrug Samuel Ibn Tibbon (1160–1230) den ursprünglich auf Arabisch verfassten „Weg­weiser“ erstmals ins Hebräische, kurz darauf legte Jehu­da al-Ḥarīzī (1170–1235) eine weitere Übertragung vor. Auf dieser Grundlage wurde das Buch um 1230 von un­bekannter Hand ins Lateinische übertragen und beein­flusste in der Folgezeit auch das europäische Denken.

Eine Anleitung zum Denken in 17 Schritten

Der Aufbau der Handschrift Ms. Rec. adj. f. 10 folgt einer klar erkennbaren Struktur, die sich in vielen anderen Handschriften auf Griechisch, Syrisch, Arabisch, Arme­nisch und Lateinisch in ähnlicher Form wiederfindet und auf der spätantiken Tradition der aristotelischen Logik, dem sogenannten Organon (=Werkzeug) fußt. Die Hand­schrift, deren Aufbau einem Einführungskurs in die Logik gleichkommt, stellt aufgrund ihrer beispiellosen Voll­ständigkeit einen für die Philosophiegeschichte unschätzbaren Textzeugen dar. 


Die Besonderheit der hebräischen Rezeption der aristo­telischen Logik besteht darin, dass die Schriften des Aris­­toteles nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung gar nicht selbst ins Hebräische übersetzt wurden. Statt­dessen waren es die Schriften arabischer Philosophen wie Ibn Rušd und vor allem al-Fārābī (†um 950), die im gebildeten Judentum seit dem aus­gehen­den 12. Jh. zur Unterweisung in aristotelischer Lo­gik rezipiert worden sind. Erste Übersetzungen dieser Schriften ins Hebräische gehen wohl auf Juda Ibn Tibbon (1120–1190) zurück; dessen Enkel Mosche ibn Tibbon († um 1283) wird an einer Stelle unserer Handschrift als Übersetzer genannt. 


Als Besonderheit enthält die Handschrift auf Fol. 45r–v im Anschluss an den aufgeschlagenen Traktat al-Fārābīs „die Bedingungen der Gewissheit“ (Maʾmar be-Heqqesch ha-Mofeti) eine interessante Diskussion über die richti­ge Technik der – ihrerzeit keineswegs unumstrittenen – Über­setzung philosophischer (zudem muslimischer!) Wer­ke aus dem Arabischen ins Hebräi­sche. Dieser bisher kaum beachtete Einschub des ano­nymen Übersetzers ist ein wichtiges Zeugnis der sich herausbildenden Zunft der Berufsübersetzer – mitsamt ihren gegenseitigen Sticheleien und Querelen bezüglich des richtigen Über­setzens.

Der aristotelische Logik-Kurs durch die Brille der arabischen Philosophie

Die linke Seite zeigt den Beginn der „Bedingun­gen der Gewissheit“ von Abū Naṣr al-Fārābī. 


Handschrift mit 15 Traktaten auf Papier, 74 Blatt; Maghreb (Meknes), um 1408; Fol. 42v–43r


Ms. Rec. adj. f. 10 (Kat.-Nr. 6.1)

Die aristotelische Philosophie im Islam

Stellt die erste der drei philosophischen Handschriften (Ms. Rec. adj. f. 10) eine Art Lehrbuch der Methoden des Denkens dar, so widmet sich die zweite (Ms. Rec.adj. f. 8) dem Kernbereich der Philosophie, nämlich der aristote­lischen Metaphysik. Auch diese lasen die mittelalterlichen Juden nicht im Original, sondern in Form einer aus dem Arabischen übersetzten gelehrten Zusammenfassung. Der Autor der Vorlage ist Ibn Rušd (Averroes), ein spa­nischer Aristoteliker aus dem 12. Jh. (1126–1198), der im lateinischen Europa als der „Kommentator“ schlecht­hin des Aristoteles berühmt wird. Averroes’ Philosophie ist weitgehend befreit von den Einflüssen des Neuplato­nismus, die eine Integration aristotelischen Denkens in eine monotheistische Religion wie das Judentum wesent­lich erleichtern. Aus diesem Grund wird der averroische Aristoteles im mittelalterlichen Judentum als Korrektiv zu Maimonides wahrgenommen: Während Maimonides z.B. Gottes Schöpfung als wirkursächliche, neue Hervor­bringung der Welt versteht, ist Gott in Averroes’ Deu­tung vielmehr der Intellekt, der der ewigen Welt in jedem Moment Zielausrichtung und Ordnung verleiht. 


Bei der dritten Handschrift (Ms. Rec. adj. f. 7) handelt es sich nicht um eine Erörterung griechischer Philosophie, sondern um eine arabische Originalschrift – und zwar ein Hauptwerk von ʾAbū Ḥāmid al-Ġazzālī (um 1055–1111), einem der Begründer der sunnitischen Theolo­gie. Er trat damit dem erheblichen Einfluss gegenüber, welchen die Philosophie in der islamischen Welt v.a. durch das Werk Ibn Sīnās (Avicenna, um 980–1037) gewonnen hatte, der in der Philosophie ein Angebot an jeden Gläubigen sah. Selbst durchaus an Philosophie interessiert, nimmt al-Ġazzālī in seinem Werk die Argumente der Philosophen mit deren eigenen Mitteln auseinander, um ihre Inkohärenz zu belegen.

Eine philosophische Herausforderung

Der Mittlere Kommentar zu Aristoteles’ Meta­physik von Averroes (Ibn Rušd = בן רשד)


Handschrift auf Papier (äußere Blätter der Lagen aus Per­gament), 198 Blatt; Spanien oder Maghreb, 15. Jh.(?); Fol. 1v–2r: „Erste Abhandlung“ (המאמר הראשון)


Ms. Rec. adj. f. 8 (Kat.-Nr. 6.2)

Eine theologische Kritik der aristotelisch-avicennischen Philosophie

Einer der seltenen hebräischen Textzeugen von al-Ġazzālīs „Inkohärenz der Philosophen“


Handschrift auf Papier (äußere Blätter der Lagen aus Pergament), 91 Blatt; Spanien/Maghreb, 15. Jh.(?); Fol. 31v–32r


Ms. Rec. adj. f. 7 (Kat.-Nr. 6.3)

Das philosophische Erbe des Aristoteles (6)