Andacht, Bildung und Erbauung
Auch wenn die Heilige Schrift und ihre Auslegung einen wichtigen Kristallisationspunkt jüdischen Schrifttums bildet und nicht von ungefähr am Beginn auch dieser Ausstellung steht, hat das Judentum von Anbeginn auch andere Gattungen von Literatur hervorgebracht. Dazu gehören neben den hier eigens behandelten Gebieten Sprachwissenschaft und Philosophie etwa Geschichtsschreibung, Poesie und Unterhaltungsliteratur. Die Quellen für diese verschiedenen Gattungen sind einerseits wiederum religiöser Natur; die feste Verankerung jüdischer Identität in der Tradition des TaNaKH lässt immer wieder biblische Motive und Gestalten zum Gegenstand literarischer Schöpfungen werden, wie in den lebendigen Nacherzählungen des Schemuel Bukh und des Melokhim Bukh in jiddischer Sprache (4 Rabb.II,5). Die zunehmende Einbeziehung der Gemeinde in den Gottesdienst machte den Gebrauch von Gebetbüchern erforderlich, welche ähnlich den Gesangbüchern im christlichen Kultus die gemeinsam zu sprechenden liturgischen Texte enthalten (2 Rabb.II,25). Zur individuellen Religionsausübung wurden verschiedene Ritualwerke geschaffen, in denen – oft ebenfalls in der Volkssprache – die wichtigsten religiösen Vorschriften unter Auslassung der gelehrten rabbinischen Diskussion leicht verständlich zusammengefasst sind (8 Rabb.II,13). Andererseits kommen aber auch ganz profane Motive zum Tragen, etwa im Bereich der Naturwissenschaften (4 Rabb.II,49) oder in der weltlichen Dichtkunst, wie im Falle der im Mittelalter so beliebten Ritterromane. Die jüdischen Dichter waren stets auf der Höhe der Zeit: Wie Flavius Josephus, dessen Werk als Vorbild der mittelalterlichen Josippon-Adaptionen diente (4 Rabb.II,101 und 102), der hellenistischen Geschichtsschreibung verpflichtet war, schufen spätere Dichter wie Emanuel ha-Romi oder Elia Levita Poesie im Stile Dantes (4 Rabb.II,81) oder der europäischen Heldenerzählungen.
7.6
Ritualsammlungen in der Volkssprache verfolgten das Ziel, religiöses Wissen auch dort zu verbreiten, wo rabbinische Gelehrsamkeit rar war.
Isaak Tyrnau/Simon Lewi Günzburg: Minhógim („Gebräuche“); Frankfurt a. Main: Seligman Reis, 1707/08; Fol. 20v
8 Rabb.II,13 (Kat.-Nr. 7.6)
(Kopie 3)
7.7
Das „Werk des Tobias“ (Tobias Kohn, auch Katz, 1652–1729), der u.a. in Frankfurt (Oder) studierte, umfasst Medizin, Botanik, Astronomie u.v.m.
Tobias Kohn: Mispar ha-ʿOlamot ʾo Maʿaśeh Ṭovija; Jessnitz (Anhalt): Israel bar Abraham, 1721; Fol. 32v–33r
4 Rabb.II,49 (Kat.-Nr. 7.7)
(Kopie 3)
Gebetbücher
Gebete (tefillot, Singular tefilla = תפלה, eigentlich „Bittgebete“) gehören im Judentum wie in anderen Religionen auch zu den zentralen Bestandteilen des Gottesdienstes. Lag die Gestaltung der Liturgie lange Zeit allein in den Händen des Vorbeters (Chazzan), konnte sich die Gemeinde im Zuge der Verbreitung gedruckter Gebetbücher mehr und mehr selbst aktiv am Gottesdienst beteiligen. Bei den Gebetbüchern kann grundsätzlich zwischen solchen für das tägliche Gebet und solchen für die Feiertage unterschieden werden. Erstere werden Siddur („Ordnung“) genannt, letztere hingegen Machzor (auch Machsor: „Wiederholung, Zyklus“). Da sich die liturgischen Traditionen regional unterscheiden, sind auch unterschiedliche Gebetbücher für die einzelnen Riten in Gebrauch; der hier ausgestellte Machzor (2 Rabb.II,25) folgt dem mitteleuropäischen (aschkenasischen) Ritus.
7.4
„gedruckt in der Heiligen Gemeinde Prag (פראג), der gepriesenen und gekrönten (Stadt), unter der Herrschaft unseres Herrn Kaiser Matthias“
Machzor mi-kol ha-Schana (מחזור מכל השנה) – der „Jahreszyklus“; Prag: Mose ben Josef Betzalʾel Katz, 1612/13
2 Rabb.II,25 (Kat.-Nr. 7.4)
(Kopie 3)
Jiddische Sprache und Literatur
Das Jiddische (auch „Judendeutsch“ genannt) stellt – wie etwa das „Judenspanische“ oder Ladino für die Sefarden – die Umgangssprache der aschkenasischen Juden dar. Entstanden aus mittel- und oberdeutschen Dialekten und mit zahlreichen Hebraismen, aber auch Romanismen durchsetzt, bildete sie über Jahrhunderte hinweg das Verständigungsmittel von Juden in Mittel- und Osteuropa und hat – zunächst mit Schwerpunkt im Westen, später dann vorwiegend in Osteuropa – auch eine vielfältige Literatur hervorgebracht, die ihre produktivste („klassische“) Phase im 19. und frühen 20. Jh. erreichte.
Druckschriften in jiddischer Sprache weisen einige Besonderheiten auf. Zunächst fällt die besondere Drucktype ins Auge, die auf den ersten Blick an die sogenannte Raschi-Schrift erinnert und wie diese auf eine halbkursive Handschrift zurückzuführen ist. Nach einem der populärsten jiddischen Bücher, dem Tzeʾéna u-Reʾéna („Kommt und seht!“), einer Ende des 16. Jh. geschaffenen und vor allem bei Frauen beliebten Paraphrase der hebräischen Bibel, wird diese Schrift auch Tzene-Rene-Schrift oder „Weiberdeutsch“ (Wajberṭajṭsch) genannt. Desweiteren orientiert sich die jiddische Schrift großenteils an der deutschen Orthographie, was insbesondere im regelmäßigen Ausdruck von Vokalen durch Buchstaben des Alphabets sichtbar wird. Neben den auch im Hebräischen gelegentlich für Vokale verwendeten Buchstaben א (für a und o), ו (für o und u) und י (für i und e) wird im Jiddischen der als Konsonant nicht benötigte Buchstabe ע regelmäßig zur Wiedergabe des Vokals e verwendet.
7.2
Ein „äußerst seltenes Exemplar“: das Buch der Könige (Melókhim) in 2262 vierzeiligen Strophen nach Art des Hildebrandsliedes
Doś Séfer Melókhim in ṭoiṭscher Schprokh (דש ספר מלכים אין טוייטשר שפראך); Augsburg: Paulus Aemilius, 1543
4 Rabb.II,5(1) (Kat.-Nr. 7.2)
Séfer Schemuʾel. Doś Bukh Schemuʾel in ṭoiṭscher Schprokh; Augsburg: Paulus Aemilius, 1544; Titelseite
4 Rabb.II,5(2) (Kat.-Nr. 7.2)
7.5
Die mittelalterliche Adaption des jüdischen Historikers Josephus Flavius (um 37–100) in einer seltenen Prager Druckausgabe
Séfer Josippon; Prag: Mose ben Josef Betzalʾel Katz, 1607
4 Rabb.II,101 (Kat.-Nr. 7.5)
Belagerung der jüdischen Stadt Jodfat durch die Römer im Jahre 67 n. Chr. unter Einsatz eines Rammbocks „in Geschṭalṭ ajnes ajzern Widders“
Séfer Josippon; Amsterdam: Uri Phoebus ben Aaron Witmund ha-Lewi, 1661; Fol. 235v–236r
4 Rabb.II,102 (Kat.-Nr. 7.5)
(Kopie 3)
Die Kabbala
Mit dem Begriff Kabbala (wörtlich „Empfangenes“, auch „Überlieferung“) wird gemeinhin die jüdische Mystik bezeichnet. Als eigenständiges Phänomen setzt die Kabbala aber erst im Mittelalter, genauer: im 12. Jh. ein. Die jüdische Mystik als solche, die ihren Ausgang im Ezechielbuch der hebräischen Bibel nimmt, ist jedoch weit älter und entstand wohl in posttalmudischer Zeit (nach dem 5. Jh.) in der Levante oder in Mesopotamien. Elemente dieser Mystik waren bereits im 9. Jh. im westlichen Europa bekannt. Dagegen ist die Bezeichnung Kabbala erstmalig bei dem Mystiker Isaak dem Blinden (1160–1235) nachweisbar. Dieser stammte aus der Provence, der Region an der Schnittstelle zwischen aschkenasischem und sefardischem Judentum. Hier, in geographischer Nähe zum islamischen Spanien und über das Mittelmeer gut vernetzt mit Byzanz und dem Orient, fand ein reger Ideenaustausch statt. In dieser reichhaltigen Geisteswelt entwickelte sich die Kabbala als mystische Strömung.
War die älteste jüdische Mystik noch um Aufstiege in den Himmel zu den göttlichen Palästen bemüht, ging es der Kabbala darum, die Gottheit zu einer lebendigen und greifbaren Erfahrung werden zu lassen. Die Kabbala lässt sich als Reaktion auf die zeitgenössischen Philosophen und Theologen begreifen. Die Kabbalisten, die z.T. auch Philosophen waren (und umgekehrt), begnügten sich nicht länger mit der Entrückung der Gottheit aus dem menschlichen Relationsbereich, sondern versuchten, den immer abstrakter werdenden Gott der Philosophen mit der Lebendigkeit des biblischen Gottes zu verbinden. Das bedeutendste Buch, das die mittelalterlichen Kabbalisten dazu hervorbrachten, war der Séfer ha-Zóhar („Buch des Glanzes“). Einer von dessen ältesten Bestandteilen ist in einem seltenen Druck in den Jenaer Bibliotheksbeständen erhalten (8 Rabb.II,73/75).
7.3
Ein seltener kabbalistischer Druck mit einem allegorischen Kommentar zum Buch Ruth
Moses ben Schem Ṭov de León (?): Tappuche Zahav (תפוחי זהב) bzw. Jesod Schirim; Thiengen: Eliʿezer und Josef ben Naftali Hertz Treves, 1560
8 Rabb.II,73/75 (Kat.-Nr. 7.3)
(Kopie 3)
Dantes jüdischer Kollege – Emanuel Ben Samuel Ha-Romi (um 1261–1330)
Emanuel ben Salomo ha-Romi („aus Rom“), genannt Manoello Romano, gilt als der bedeutendste jüdische Dichter Italiens. In seinen Werken orientierte er sich vor allem an der in Andalusien florierenden jüdisch-arabischen Poesie, griff aber auch Einflüsse seines italienischen Umfelds auf, etwa aus der Göttlichen Komödie seines Landsmannes und Zeitgenossen Dante Alighieri, mit dem er womöglich auch persönlich bekannt war. Der hebräische Titel seines Hauptwerkes, ha-Machbarot, wörtlich „die Hefte“, wird gern mit „Diwan“ übersetzt, was dem Charakter des Buches durchaus gerecht wird – handelt es sich doch um eine Anthologie verschiedenster Gedichte und Erzählungen, teils mit autobiographischem Anstrich und von ausgesprochen humoristischem Charakter. Bei dem hier gezeigten Wiegendruck des Werkes handelt es sich um das älteste hebräische Druckwerk in der Jenaer Bibliothek (4 Rabb.II,81).
Das mit „Hölle und Paradies“ überschriebene letzte der 28 „Hefte“ der Machbarot beschreibt wie Dantes Commedia einen Besuch des Autors in der jenseitigen Welt. Geführt von Daniel, dem biblischen Apokalyptiker, trifft Emanuel in der Unterwelt auf Ärzte und Philosophen wie Hippokrates, Aristoteles und Avicenna, aber auch auf die armen Sünder aus der Bibel: den Brudermörder Kain, den Judenfeind Haman und die wollüstige Frau des ägyptischen Kämmerers Potiphar. Im Paradies wird der Autor von König David persönlich empfangen, zu dessen himmlischer Entourage auch David Qimchi als Kommentator der Psalmen gehört.
7.1
Beginn des Abschnitts „Hölle und Paradies“ (ha-Tófet we-ha-ʿÉden = התופת והעדן, links)
Emanuel ben Salomo ha-Romi: Séfer ha-Machbarot; Brescia: Gerschom Soncino, 1491; Einband von 1514
4 Rabb.II,81 (Kat.-Nr. 7.1)