Hinweis: Um die korrekte Darstellung der Seite zu erhalten, müssen Sie beim Drucken die Hintergrundgrafiken erlauben.

Vorgeschichte

Als älteste Hinweise auf die Anwesenheit von Juden in der seit Mitte des 13. Jahrhunderts bis 1802 autonomen Reichsstadt Mühlhausen können die Vorschriften des aus dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts stammenden Mühlhäuser Rechtsbuchs angesehen werden. Hier wird allgemein längst gebräuchliches Vorgehen für das Kreditnehmen bei Juden rechtlich fixiert. Verschiedene Nennungen von Juden in der Folgezeit, nicht zuletzt ihre Ermordung während des Pestpogroms 1349, lassen durch Angaben zu Rabbinern oder allein anhand der Anzahl der Namen auf eine örtliche jüdische Gemeinde schließen. Zuletzt bestätigte der jüngere Fund eines auf 1432 datierten Grabsteins die Existenz einer jüdischen Gemeinde auch nach den Pestepidemien des 14. Jahrhunderts. Eine gewisse regionale Besonderheit stellt die Anwesenheit von Juden in der Reichsstadt, zeitweise wohl auch als Gemeinde, selbst nach dem Pogrom im Jahr 1452 bis in die Zeit um 1510 dar. Gleiches gilt für die erneute Duldung einzelner Juden ab den 1630er Jahren – eine für Städte im Thüringer Raum ungewöhnliche Entwicklung. Dieser vor allem ab dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts gegen den massiven Widerstand maßgeblicher Teile der Bürgerschaft und der örtlichen Vertreter der protestantischen Kirche nur sehr langsam zunehmende Zuzug von Juden führte wohl ab Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer Anzahl, die der Größe einer Gemeinde entsprach. Diese wurde 1806, noch unter preußischer Herrschaft, schließlich juristisch gegründet, kurz bevor das napoleonisch-französische Staatensystem auch in Mühlhausen weitere wesentliche Verbesserungen für die Juden und ihre Gemeinde per Gesetz durchsetzte.


Ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis um 1933 lebten jeweils zwischen 170 und über 200 Juden in Mühlhausen. Der 1841 geweihte Neubau der Gemeindesynagoge liegt im Bereich des einstigen mittelalterlichen Wohngebiets der Juden, entspricht dem Bautyp einer Hinterhaussynagoge, zeigt aber durchaus repräsentative architektonische Formen. Anstelle des Standortes seines mittelalterlichen Vorgängers wurde 1872 eine Erweiterung des ersten städtischen Zentralfriedhofs dem jüdischen Friedhof zugewiesen. Zu den Juden der Stadt gehörten mehrere Inhaber von für Mühlhausen damals typischen familiengeführten mittelständischen Textilbetrieben, außerdem die Betreiber von zeitweise drei Kaufhäusern, mehrere Ärzte und vor allem Betreiber kleinerer Gewerbe. Zu ihren Familien mit oft nur bescheidenem Wohlstand traten einzelne bedürftige Mitglieder der Synagogengemeinde, ganz vereinzelt auch ostjüdisch geprägte Zugezogene. Die Gemeinde bildete zudem die Basis für die Arbeit verschiedener Vereine, die das religiöse Leben unterstützen und umfangreiche soziale Aktivitäten (über die jüdische Gemeinschaft hinaus) ermöglichten.             


Das vorherrschende politische Klima in Mühlhausen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kann als bürgerlich-konservativ bis liberal beschrieben werden. Traditionelle antisemitische Ansichten waren zwar vorhanden, etwa auf der Grundlage eines christlichen Antijudaismus‘, und hatten sich längst auch offen gezeigt (beispielsweise bei der Partei der „Reformvereine“ um 1890 oder nach 1918 innerhalb der Deutschnationalen Volkspartei), aber eine NSDAP-Ortsgruppe gründete sich hier erst 1925. Ab 1929 stellte sie vier der 36 Stadtverordneten. Bei der Reichspräsidentenwahl im April 1932 erreichte Hitler im Stadtkreis Mühlhausen schon einen Stimmenanteil von 50,6 Prozent. Vorerst war die Stadt in der preußischen Provinz Sachsen noch nicht unmittelbar von der Regierungspolitik der Koalition unter NSDAP-Beteiligung ab 1930 im benachbarten Freistaat Thüringen betroffen. Allerdings trat die antisemitisch ausgerichtete Gewaltherrschaft auch hier ab Frühjahr 1933 umso radikaler in Erscheinung. Ab dem Herbst dieses Jahres bekam diese Politik der NS-Diktatur durch die Person des von Gauleiter Sauckel in Mühlhausen eingesetzten NSDAP-Kreisleiters Paul Vollrath (1899-1965) eine zusätzliche Dynamik. Die Boykottmaßnahmen gegen Juden und ihre Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben, einschließlich der Schikanen gegen jüdische Kinder in den Schulen, schließlich ihre Isolierung durch die Nürnberger Rassegesetze, führte zu ersten Auswanderungen von jüdischen Familien oder Umzügen in größere Städte. Heinrich Eckmann (1871-1947), Gründer des gleichnamigen Kaufhauses, emigrierte 1934 nach Denunziationen im Hetzblatt „Der Stürmer“ nach Britisch-Palästina. Auch das Kaufhaus Manasse als Mühlhäuser Filiale des Schocken-Konzerns schloss schon um die Jahreswende 1937/38. Die Familie seines Geschäftsführers Withold Freudenheim (1884-1966) erreichte nach über einem Monat Schiffspassage Ende November 1938 Uruguay. 


Schon frühzeitig hatten die diskriminierenden staatlichen Maßnahmen zu einem deutlichen Anstieg jener Mitglieder der jüdischen Gemeinde geführt, die nun materieller Unterstützung bedurften. Dies führte bereits im Herbst 1934 zur generellen Absage der Gemeinde an Unterstützung oder Veranstaltungen des Jüdischen Kulturbundes und spiegelt sich ebenso in einer Erhebung der Jüdischen Winterhilfe von Ende 1936, wonach im südlichen Teil der preußischen Provinz Sachsen, zu dem Mühlhausen gehörte, knapp 28 Prozent aller Juden als hilfsbedürftig eingeschätzt wurden – deutlich über dem Reichsdurchschnitt von rund 21 Prozent.



Auslagen im Kaufhaus Manasse, einem Anschluss-Geschäft des Schocken-Konzerns, am Mühlhäuser Steinweg, 1927. (Sammlung Liesenberg)

Die Ereignisse im November 1938

Im Vorderhaus zur Synagoge, in der 1933 demonstrativ zur „Horst-Wessel-Straße“ umbenannten ehemaligen „Jüdenstraße“ 13 (heute Nr. 24), befand sich neben den Gemeinderäumen im Obergeschoss auch die Dienstwohnung der Familie des Kantors und Religionslehrers, später auch Vertretungs-Rabbiners Max Rosenau (1896-1963). Wenige Wochen vor dem November 1938 waren die Hohen Feiertage des Judentums, die Bußtage zu Beginn des jüdischen Jahres bis zum Versöhnungstag (Jom Kippur), begangen worden. Bei den zahlreichen, zum Teil sehr lang andauernden Gottesdiensten an diesen Tagen hatte Rosenau (wie in vielen jüdischen Gemeinden üblich) Unterstützung von einem Laien-Kantor gehabt, einem Kaufmann aus dem benachbarten hessischen Raum. Von ihm hatte Familie Rosenau nun erfahren, dass es im Hessischen bereits kurz vor dem 9. November 1938 Ausschreitungen gegen Juden gegeben hatte, so am 7. November in Kassel und am Abend des 8. November 1938 in Hersfeld. Überlebende berichteten später von einer gewissen Vorahnung auf ein schreckliches Geschehen auch in Mühlhausen. 


Am Abend des 9. November 1938 verlängerten NSDAP-Kreisleiter Vollrath und seine engere Gefolgschaft die „Heldengedenkfeier“ für den Münchener Hitlerputsch 1923 im Lokal „Schwarzer Adler“ in der Langensalzaer Straße 1 in feucht-fröhlicher Runde. In diesem Gasthaus (das Gebäude existiert heute nicht mehr), damals noch „Zum faulen Loch“ genannt, hatte 1801 Johann Wolfgang von Goethe übernachtet. Von dort aus brachen nun der Kreisleiter und seine Mitstreiter, einige von ihnen alkoholisiert, gegen Mitternacht und entgegen der zentralen Anweisung zum „zivilen“ Volkszorn in den Uniformen ihrer NS-Organisationen, zur Synagoge auf. 


Am 10. November, gegen 0:30 Uhr, brachen sie dort die Tür zum Vorderhaus auf. Während ein Teil der Täter wesentliche Teile der Inneneinrichtung der Synagoge im Hof zerstörte (eine Brandschatzung innerhalb der engen Bebauung war unmöglich), stürmten andere von der Diele des Vorderhauses die Treppe zur Wohnung der Familie Rosenau hinauf. Der Uhrmacher Arthur Rost (1880-1962) trat die Wohnungstür ein. Beim Herunterstoßen auf der Treppe unter ständigem Prügeln der Täter verlor Rosenau seine Brille. Auch seine Frau Hertha (1893-1980) und seine 14jährige Tochter Mirjam (Mira) wurden unsanft in die Diele und anschließend in den Hof zur Synagoge befördert. Mira wurde in diesem Zusammenhang vom Mittelschulrektor Bernhard Klett geschlagen. Max und Hertha Rosenau beteten das „Schma Jisrael“ („Höre Israel“ – zentraler Gebetstext aus der Thora, wird unter anderem in Erwartung des Todes gesprochen). Als weitere Beteiligte der wohl rund zwei Dutzend Täter des Pogroms in Mühlhausen sind bislang einige engere Mitarbeiter Vollraths aus der NSDAP-Kreisleitung und der Landkreisverwaltung namentlich bekannt: Egeler, Müller, Dr. Ruhs, Siegmann, Streil. 


Im Hof vor der Synagoge musste Max Rosenau sich an einer Wand aufstellen, während Kreisleiter Vollrath mit groben Worten lautstark seine Absicht äußerte, den ersten Juden, den er träfe, wegen des Attentats von Herschel Grynzspan gegen den deutschen Botschaftsrat vom Rath in Paris zu töten. Tatsächlich schoss Vollrath auf Rosenau. Dieser erlitt eine schwere Verletzung durch einen Brustdurchschuss, konnte aber überleben, da er der Polizei übergeben und sofort in die Notaufnahme des städtischen Krankenhauses gelangte. Seine Frau und die Tochter wurden bis zum Morgen in polizeilichen Gewahrsam genommen. Tochter Mira, wegen leichter Verletzungen aus der Pogromnacht mit einem Armverband versehen, wurde bei der Entlassung angewiesen, diesen Verband abzunehmen, um der „ausländischen Gräuelpropaganda“ keinen Vorschub zu leisten.


Schilderungen von Zerstörungen jüdischer Geschäfte während des Pogroms sind in Mühlhausen nicht überliefert, wenn auch solche Taten nicht auszuschließen sind. Freilich dürfte die zwangsweise und plötzliche Schließung von zahlreichen Ladenlokalen und Praxen im Straßenbild ab dem 10. November 1938 insbesondere im Stadtzentrum stark aufgefallen sein. Die kultische Einrichtung der Synagoge wurde außerhalb der Stadt, am Rieseninger Berg, wo laut Überlieferung auch 1525 die Reformatoren Thomas Müntzer und Heinrich Pfeiffer hingerichtet worden sein sollen, verbrannt.


31 jüdische Männer wurden in Mühlhausen am Morgen des 10. November 1938 festgenommen, darunter ein sich hier zu einem Verwandtenbesuch aufhaltender auswärtiger Mann. Selbst in dieser Stadt zeigte sich die zentral gesteuerte Vorbereitung des Pogroms durch die aus anderen Orten (z.B. Erfurt) bekannte Praxis der Internierung dieser Personen in einer Turnhalle. Die besondere Situation in Mühlhausen bestand darin, dass sich diese Turnhalle direkt am „Fritz-Sauckel-Haus“ der NSDAP-Kreisleitung, somit im permanenten Sichtbereich des wohl größten örtlichen antisemitischen Akteurs, des Kreisleiters Vollrath, befand. Die Festgenommenen mussten zunächst schikanierende „Arbeiten“ im Hof zwischen der Turnhalle und dem Haus der Kreisleitung verrichten, bevor sie später unter dem Gejohle von Schaulustigen und begleitet von Tritten ihrer Bewacher per Lkw in das Konzentrationslager Buchenwald abtransportiert wurden. 



Jüdisches Gemeindehaus in der Jüdenstraße, 2008. (Foto: Liesenberg)



Innenraum der Synagoge kurz vor der Zerstörung 1938. (Sammlung Liesenberg)

Folgen

Bis Ende November 1938 kamen infolge der Willkür der SS-Bewacher, brutaler Schikanen und der generell völlig unzureichenden Bedingungen in Buchenwald mit dem Rentner Albert Cohn und dem Augenarzt Dr. Siegfried Cohn zwei der in Mühlhausen während des Pogroms verhafteten Juden zu Tode. Nach der Haftentlassung verstarben in Mühlhausen am 4. Dezember 1938 Paul Schwarz im Alter von 65 Jahren und Kaufmann Stern am 21. Dezember 1938 im Alter von 59 Jahren an den Folgen der Lagerhaft. 



Todesmeldung des KZ Buchenwald für Albert Cohn, 23. November 1938. Nach Angaben der SS starb der 64-jährige Mann an „Herzschwäche“ im Arrest. Die Formulierung lässt schwere Misshandlungen vermuten. (Arolsen Archives)


Ende Dezember 1938 befanden sich noch drei der 31 im November 1938 in Mühlhausen verhafteten Juden im Konzentrationslager Buchenwald. Als Voraussetzung für eine Entlassung galt ein Visum zur Ausreise aus dem Deutschen Reich. Zuvor erpresste die SS von zahlreichen Opfern die Überschreibung von Vermögenswerten. Die verzweifelten Bemühungen der Angehörigen der Inhaftierten, zumeist Frauen, eine der sehr seltenen Ausreiseerlaubnisse zu bekommen – zumal von Orten wie Mühlhausen, weitab von ausländischen Vertretungen, Hilfsinitiativen und zuständigen Behörden – verdienen hier Erwähnung. Einige Mühlhäuser Juden konnten den Machtbereich der deutschen NS-Diktatur bis zum Kriegsbeginn 1939 noch verlassen. 


Die völlige Entrechtung und Ausraubung der Jüdinnen und Juden als offizielle Politik mit manchen privaten Nutznießern verstärkten sich auch in Mühlhausen ab Ende 1938 drastisch. Als Beispiele seien nur die Konfiszierung der letzten Eigentumswerte (sogenannte „Arisierung“), die Zwangseinweisung in stark überfüllte Ghettohäuser (sogenannte „Judenhäuser“) ab 1940 (in Mühlhausen sind hiervon vier bekannt) und die „Kennzeichnung“ von Personen und Wohnungen durch den sogenannten „Judenstern“ ab Herbst 1941 genannt. 60 Opfer der Shoah aus Mühlhausen sind bekannt, rund ein Drittel der jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner von 1933. Etwa die Hälfte dieser Opfer wurde direkt aus Mühlhausen zur Vernichtung in den „Osten“ deportiert. 1942 geschah ihr Gang zum Abtransport (im Mai noch zum Personenbahnhof, im September bereits zu einem Güterbahnhof) unter der Wahrnehmung der Öffentlichkeit. 



Das Wohn- und Geschäftshaus von Max Scheps (1880-1944), der letzten Vertrauensperson der „Reichsvereinigung der Juden Deutschland“ in Mühlhausen ab etwa 1939, am Blobach, 2008. Ein nahegelegenes Ghettohaus („Judenhaus“) war im September 1942 Ausgangspunkt auch der Deportation von Scheps, seiner Ehefrau und seiner Schwiegermutter. (Foto: Liesenberg)

Biographien

Die Auswirkungen von Verbrechen wie dem Novemberpogrom von 1938 in persönlichen Lebensläufen betreffen vor allem Opfer, aber auch die Täter. Sie hier innerhalb ein und desselben Kapitels aufzuführen, ist keineswegs unproblematisch.


Max Rosenau


Der Kantor, Religionslehrer und Schächter, der unter den erschwerten Bedingungen für die Aufrechterhaltung des jüdischen Kultus und der Seelsorge nach 1933 auch als Vertretungs-Rabbiner arbeitete, stammte aus dem niederschlesischen Striegau (heute: Strzegom), wo er 1896 geboren wurde. Unterbrochen durch den Einsatz als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg absolvierte er eine Ausbildung zum Religionslehrer an den jüdischen theologischen Hochschulen in Breslau und Berlin. Wohl aus den Erfahrungen mit antisemitischen Initiativen im Weltkrieg bekannte er sich spätestens seit den frühen 1920er Jahren zum Zionismus. Nach ersten Anstellungen in den schlesischen jüdischen Gemeinden in Haynau (heute: Chojnów) und Görlitz arbeitete Rosenau ab 1924 in der Synagogengemeinde in Mühlhausen. Als Zionist wurde er oft kritisiert, versuchte aber insbesondere nach 1933 bedrohten Juden eine Ausreise nach Palästina, das unter britischem Völkerbundsmandat stand zu ermöglichen. Die ältere Tochter der Rosenaus wanderte 1935 als Jugendliche dorthin aus.


Beruflich und persönlich stand Rosenau besonders mit dem Erfurter Rabbiner Dr. Max Schüftan (1887-1936), mit dem er bereits in Görlitz zusammengearbeitet hatte, und dem Eisenacher Kantor Robert Loewenthal (Jahrgang 1898) in enger Verbindung. Sie verband auch der Vorsatz, den der oberste Repräsentant der Juden in Deutschland, Rabbiner Dr. Leo Baeck (1873-1956) nach 1933 propagierte: Die jüdischen Seelsorger sollten das Land als letzte verlassen, wenn alle anderen Juden bereits im sicheren Ausland wären.


Nach der lebensgefährlichen Schussverletzung in der Pogromnacht 1938 bedeutete der behandelnde Arzt, Dr. Wetzel, selbst ein Mitläufer des NS-Systems, Max Rosenau, dass er dringend Ausreisepapiere benötige, weil er sonst nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus auch in Buchenwald inhaftiert werden würde. 1939 erreichte Familie Rosenau das rettende Erez Israel. Von seinen starken gesundheitlichen Beschwerden infolge des Novemberpogroms erholte sich Max Rosenau nicht mehr. Verschiedenen Anstellungen als ungelernter Arbeiter folgten zunehmend Aufenthalte in Sanatorien. 1963 starb Max Rosenau in Israel.



Kantor Max Rosenau mit Talar und Gebetsschal, 1927. (Sammlung Liesenberg)


Paul Vollrath


Der seit Oktober 1933 als NSDAP-Kreisleiter in Mühlhausen eingesetzte Paul Vollrath wurde 1899 als Sohn eines Offiziers geboren. Er wuchs an verschiedenen Garnisonsstandorten auf, bevor er selbst Kadettenanstalten besuchte, 1918 noch kurzzeitig am Ersten Weltkrieg teilnahm, bis 1920 Freikorps und bis 1923 weiteren nationalistischen paramilitärischen Gruppen angehörte.


Nach einem Pharmaziestudium war Vollrath Anfang der 1930er Jahre zunächst arbeitslos, bevor er als hauptamtlicher Funktionär der NS-Bewegung Thüringens eingesetzt wurde, zu der er seit 1925 gehörte. Gauleiter Fritz Sauckel (1894-1946) versetzte ihn nach Mühlhausen. Er bescheinigte ihm einen „barschen“ Umgangston und im „ziemlich schwierigen Gebiet Mühlhausen“ eine „gute Bewährung“. Auf Sauckels Vorschlag hin erhielt Vollrath 1934 das „Goldene Parteiabzeichen“ der NSDAP. Vollraths oft rücksichtsloses, jähzorniges und draufgängerisches Vorgehen war sowohl bei der Bevölkerung als auch innerhalb der Thüringer NS-Führung allgemein bekannt. In der Pogromnacht führte dies in Kombination mit seiner extrem antisemitischen Haltung zum Gebrauch der Dienstwaffe. Vollraths Tätigkeit als NSDAP-Kreisleiter wurde 1940 und 1945 vom Einsatz als Reserveoffizier im Zweiten Weltkrieg unterbrochen.


Nach französischer Gefangenschaft und „Entnazifizierung“ lebte Vollrath bis zu seinem Tod 1965 in Stadtsteinach (Franken), wo er als Apotheker arbeitete. Soweit dokumentiert, argumentierte er zu seiner Verteidigung nach 1945 wie viele andere Zeitgenossen vor allem mit dem Verweis auf seither völlig veränderte gesellschaftliche Bedingungen, seine soldatische Prägung zum Gehorsam und verharmloste seine Taten, nicht zuletzt die maßgebliche Beteiligung an den Verbrechen des Pogroms Anfang November 1938. 

Justizielle Ahndung

Im Zusammenhang mit den Verbrechen der Pogromnacht im thüringischen Mühlhausen fand im Mai 1958 beim Landgericht Bayreuth ein Prozess gegen den ehemaligen NS-Kreisleiter Paul Vollrath statt, der nach 1945 in diesem Gerichtsbezirk lebte. Max Rosenau war gesundheitlich außerstande, an diesem Prozess teilzunehmen. Schon bei einer ersten Befragung in Israel war er infolge der mentalen Belastung auch physisch zusammengebrochen. Somit kam in Bayreuth den Aussagen seiner Tochter Mira, seinerzeit als 14jährige Zeugin und selbst Leidtragende des Pogroms, große Bedeutung zu. Die Verteidigung Vollraths versuchte vor allem, die Glaubwürdigkeit dieser Zeugin zu untergraben. Dies gelang ihr nur bei wenigen Details, etwa bei Widersprüchen zur tatsächlichen, eher „passiven“ Teilnahme von einzelnen lokalen NS-Repräsentanten an den nächtlichen Untaten. Die Gewalttaten der Hauptakteure, insbesondere die Abgabe des Schusses durch Vollrath und die lebensgefährliche Verletzung Rosenaus, konnten jedoch nicht abgestritten werden. Das Gericht folgte allerdings letztlich der Darstellung eines einstigen engen Mitarbeiters von Vollrath in Mühlhausen, des dortigen Hauptstellenleiters der NSDAP, Heinz Siegmann, nachdem Vollrath den Schuss auf Rosenau „versehentlich“ abgegeben hätte. Die geringe Haftstrafe von zwei Jahren wegen schweren Landfriedensbruchs galt durch die Untersuchungshaft als verbüßt. 


In der öffentlichen Wahrnehmung stand der Prozess gegen Vollrath in Bayreuth deutlich im Schatten des kurz danach vor dem gleichen Gericht stattgefundenen Prozesses gegen SS-Hauptscharführer Martin Sommer (1915-1988), einem sadistischen Folterer der Lager-SS in Buchenwald und Chef des dortigen Arrestzellenbaus (genannt „Bunker“).

Spuren und Gedenken

Die Rückübertragung der Mühlhäuser Synagoge an den neuen Landesverband jüdischer Gemeinden in Thüringen stellte eines der seltenen Beispiele der tatsächlichen Anwendung des Wiedergutmachungsgesetzes in Thüringen vom 14. September 1945 dar (des einzigen derartigen Gesetzes innerhalb der sowjetischen Besatzungszone). Eine kleine Gemeinde dieses Verbandes bestand zunächst auch in Mühlhausen. Ihre Mitglieder waren zum größeren Teil Überlebende der Shoah, die nicht aus Mühlhausen stammten. Durch den Wegzug der meisten dieser Personen, insbesondere während der frühen Phase der antiisraelischen Politik der sozialistischen Staaten zu Beginn der 1950er Jahre, und dem Tod weiterer, zumeist älterer Mitglieder löste sich diese Gemeinschaft nach einigen Jahren de facto auf. Ein zentrales Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus („Faschismus“) war schon 1951 auf dem Bahnhofvorplatz errichtet worden. Der Zuzug von Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion nach 1990 führte zeitweise zu einigen jüdischen Einwohnern in Mühlhausen, eine beständige jüdische Gemeinschaft etablierte sich hier jedoch bislang noch nicht.


Erste bekannte Initiativen zum Gedenken speziell an die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der Juden der Stadt Mühlhausen reichen im kirchlichen Rahmen in das Jahr 1978 zurück. Diese wurden entsprechend der bescheidenen Möglichkeiten jenseits staatlicher Strukturen fortgesetzt und führten im November 1988 zu Veranstaltungen auf dem jüdischen Friedhof und in kirchlichen Räumlichkeiten. Ab etwa 1985 gab es auch von offizieller kommunaler Seite einzelne Aktivitäten zum Gedenken, wovon zum Beispiel eine Tafel an den Fragmenten eines früheren jüdischen Privathauses am Lindenbühl zeugt. 


Um 1987/88 wurde auch erstmals der weitere Umgang mit der in großen Teilen erhaltenen Synagoge thematisiert. Bis zu deren Neuweihe durch die Jüdische Landesgemeinde Thüringen (Sitz Erfurt) nach einer umfassenden baulichen Sanierung gut ein Jahrzehnt später, am 9. November 1998, war neben einer beständig wirksamen Privatinitiative und vielen Einzelspenden die Unterstützung der Stadt Mühlhausen notwendig. Zu diesem besonderen Gedenken, das mit der Übergabe der Synagoge an die Öffentlichkeit verbunden war, lud die Stadt Mühlhausen ehemals Mühlhäuser Jüdinnen und Juden aus vier Kontinenten ein. Heute steht die Synagoge als Stätte zur Begegnung mit jüdischer Kultur (Handbibliothek), Religion und Geschichte (dokumentarische Ausstellung) allen Interessierten offen, kann aber auch für religiöse jüdische Veranstaltungen genutzt werden. Neben anderen regelmäßigen Gedenkveranstaltungen findet das Gedenken an die Novemberpogrome immer in Verbindung mit dem jüdischen Friedhof und der Synagoge statt. Ein Hinweis auf ihre missbräuchliche Nutzung im November 1938 ist an der Turnhalle am heutigen Kristanplatz zu finden.  


Weitere Aktivitäten des Gedenkens an die Verbrechen der NS-Diktatur in Mühlhausen umfassen heute neben dem zentralen Ereignis des Novemberpogroms auch weitere Orte und Opfergruppen der Stadt. „Stolpersteine“ an Wohnhäusern wurden, ausgehend von jüdischen Einwohnerinnen und Einwohnern, mittlerweile auch zur Erinnerung an andere Verfolgte verlegt. Obwohl spätestens seit 1975 in verschiedenen lokalgeschichtlichen Beiträgen mehrfach erwähnt und erst 2003 durch einen Gedenkstein in räumlicher Nähe markiert, ließ der Umgang mit den Standorten der ehemaligen Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald aus den Jahren 1944/45 im Mühlhäuser Stadtgebiet (unter den Häftlingen zahlreiche Jüdinnen und Juden) bis in die jüngere Zeit die nötige Sensibilität zuweilen vermissen. Hierbei führten erst kürzlich vom Freistaat Thüringen unterstützte Forschungsinitiativen zu einem veränderten Vorgehen.



Thoraschrein in der Mühlhäuser Synagoge von 1938, nach der Schändung und seit 1998 (Entwurf: Liesenberg). (Zeichnung: Liesenberg)



Eingang zur Synagoge im Hof Jüdenstraße 24, 2022. Über der zentralen Tür ein Vers aus Psalm 100: „So kommet in seine Tore mit Danklied – in seine Höfe mit Lob“. (Stadtarchiv Mühlhausen, Fotosammlung, Foto: Tino Sieland)



Innenraum der Mühlhäuser Synagoge, 2022. (Stadtarchiv Mühlhausen, Fotosammlung, Foto: Tino Sieland)



Säule der Frauenempore in der Synagoge, 2013. An der Säule sind deutlich die Schäden zu erkennen, die Axthiebe in der Pogromnacht hinterlassen haben. (Touristinformation der Stadt Mühlhausen, Foto: Tino Sieland)



Jüdischer Friedhof in Mühlhausen, 2019. Im Vordergrund das jüngere Gräberfeld mit Bestattungen bis zum Ende der 1930er Jahre. (Foto: Liesenberg) 

(Kopie 1)

Weiterführende Literatur

Carsten Liesenberg, Zur Geschichte der Juden in Mühlhausen und Nordthüringen und die Mühlhäuser Synagoge, Mühlhäuser Beiträge, Sonderheft 11, 1998 und 2002 (Hrsg. Mühlhäuser Museen und Mühlhäuser Geschichts- und Denkmalpflegeverein e.V.).

­


Autor: Dr.-Ing. Carsten Liesenberg, Bonn und Erfurt